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Gehen – eine LiteraTour

  • von
waldviertler hochland, n´morgennebel

wenn wir über das Thema “Gehen” in der Literatur nachzudenken beginnen, springt “naturgemäß” sofort Thomas Bernhard hinter einem Busch hervor: Gehen – die 1971 erschienene Erzählung gilt als eines der bekanntesten Werke des Autors. Gehen – als ritualisierte Rhythmusübung einer ganzen Reihe verschrobener Charaktere. Gehen – ein sprachliches Wunderwerk, das in unvergleichlicher Dichte, mit hohem musikalischem Anspruch mit dem Beat der 70er Jahre, die Unerschrockenheit Thomas Bernhards auf den Punkt bringt. Gehen – mit allen Aspekten des Wortsinns. Gehen – trotz oder wegen der Unausweichlichkeit eng verknüpft mit dem Denken. Den Gedankengängen, den Übergängen, den Untergängen der Protagonisten auf ihren gemeinsamen Wegen.
Über den gesamten Text hinweg auslotend: Möglichkeiten und Unmöglichkeit das Gehen und Denken in Einklang zu bringen.

Ähnlich den beiden Figuren in Becketts “Warten auf Godot” Estragon und Wladimir, die an einem Punkt des Weges stagnieren, philosophieren hier zwei Gehende – Oehler und Karrer in der Erzählung von Oehler – über das Denkunmögliche der Stagnation: Das Gehen ohne jemals weggehen zu können. Schlussendlich gelingt es Karrer sich aus allem herauszunehmen, indem er verrückt wird. Auf dem Steinhof wird er bleiben. Muss nirgendshin mehr weggehen außer hinaus aus der Ausweglosigkeit.

Die Orte: Endstation Steinhof. Die Klosterneuburgerstraße. Der rustenschachersche Laden. Die Alserbachstraße. Das Gasthaus Obenaus. Die Friedensbrücke. Der Franzjosefsbahnhof.

Die handelnden Personen: Oehler. Karrer. Rustenschacher. Rustenschachers Neffe. Hollensteiner. Scherrer.

Dennoch: woher kommt diese enge Verbindung zwischen Gehen und Denken. Bereits die Philosophen der Antike saßen nicht an einem Schreibtisch, sondern wandelten angeblich gemeinsam über die Agora, den Marktplatz der freien Bürger Athens.

Auch Henry David Thoreau vermerkt in seinem Journal: “… kaum bewege ich meine Beine, beginnen auch meine Gedanken zu fließen.” In der Zeitschrift The New Yorker findet sich kürzlich ein ausführlicher Artikel von Ferris Jabr mit dem Titel “Warum uns das Gehen zum Denken verhilft” [Original: Why Walking helps us think”]. Er beschreibt darin verschiedene Zugänge und wissenschaftliche Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Gehen und unserer Gehirnaktivität befassen. Da durch das Gehen der Stoffwechsel angeregt wird, das Herz schneller schlägt und so auch mehr Blut und Sauerstoff ins Gehirn gelangt, verändert sich auch der Denkprozess. Eine weitere Studien hat das konkret auf die Kreativität bezogen und konnte zeigen, dass Personen, die zuvor eine bestimmte Geh-Leistung vollbracht haben, weitaus mehr kreative Lösungsansätze finden konnten als Vergleichspersonen, die am Schreibtisch sitzen blieben.

Erforscht wurde auch, dass die Umgebung, in der wir gehen ausschlaggebend auf die Qualität des Denkens ist. Vielleicht erscheint es uns als “Landmenschen” banal, aber das Gehen im Wald bzw. in der Natur wirkt ungleich beruhigender und ausgleichender, als das Gehen in der Stadt. Die vielen Impulse, die wir beim “Stadtwandern” bekommen wirken sich durchaus anregend aus. Wenn wir ohnehin schon im Stress sind, ist es jedoch empfehlenswert sich zumindest einen großen Park auszusuchen, um den Geist zu entlasten.

In jedem Fall hilft das regelmäßige Gehen um neue Verbindungen im Gehirn herzustellen und wirkt dem natürlichen Abbau von Gehirnzellen entgegen. [Quelle u.a.: Why Walking Helps Us Think | The New Yorker aufgerufen 15.2.2024] Eine schöne Perspektive – ein altersgemäß entspannter Spaziergang mit weitreichender Wirkung, solange wir uns dabei nicht verirren – oder sollte gerade das die Herausforderung sein?

Zurück zu Thomas Bernhard und seiner epochalen Erzählung “Gehen”: es liest sich vergleichsweise wie ein Horrorroman. Gut möglich, dass die Verfasstheit der Protagonisten eine ungünstige Ausgangsbasis darstellt. Ob es nicht doch an der städtischen Umgebung liegt? Das Wien der frühen 70er Jahre war eine durchaus triste Angelegenheit – gut nachvollziehbar, dass sich in diesen Straßenzügen kaum zuversichtliche Gedankenprozesse einstellen konnten.

Gehen wir also hinaus in die Natur – gehen wir in den Wald, über Wiesen und Felder! Dort ist der Horizont weit, der Himmel vielfältig, lassen wir den Blick schweifen – die heitere Stimmung wirkt zurück in den Körper. Und das ist es doch, was wir so dringend brauchen. Es ist alles da!